Atlas


Als der Richtspruch einst erging
Und Atlas seine Last empfing,
Lud er stolz die teure Bürde
Auf sich, mit Titanenwürde;
Schwor bei seinem forschen Herzen,
Dass er, selbst bei Höllenschmerzen,
Selbst bei aller Last der Erde,
Niemals mehr bezwungen werde.
Niemals - schwur er unter Zeugen -
Werde er den Nacken beugen!

Mutig durch der Sterne Zeiten,
Durch die ewig öden Weiten,
Einsam in dem Weltenall,
Trug er den belebten Ball.
Freute sich an neuem Leben,
Sah der Menschheit wachsend Streben
Ihm Erleichterungen bringen.
Selbst die Schwerkraft zu bezwingen,
Wähnte er in jenen Tagen.
Ach, wie leicht war da das Tragen!

Ach, die Tage sind vorbei! -
Ach, wie fließendschweres Blei
Drückt die Bürde nun herab;
Neigt die Erde sich zum Grab.
Was den Menschen froh erhebt
Ward verloren und verlebt.
Heit're Schönheit, fromme Sitten
Sind zu Fratzen roh zerschnitten.
Schwere Untat drückt die Leiden,
Die so sinnlos sich verbreiten.

Atlas seufzte zukunftsbange;
Fragte sorgenvoll, wie lange
Er die rasendschwere Bürde
Noch in Armen halten würde.
Weh in Gliedern und im Herzen
Rief er bitter aus vor Schmerzen:
"Bruder, diese Menschenbrut,
Siehe! Sie missbraucht die Glut!
Feuer, dass du einst geschenkt,
Mordet kriegerisch und sengt!"

Und er bäumt die Kraft der Sehnen,
Bis Stunden sich zu Jahren dehnen,
Bis brüllend er vor Qual gesteht,
Dass seine Kraft zu Ende geht.
"Nun sei's - wenn selbst Titanenmut
Vor dieser Welt muss weichen,
Verwerf' ich sie in Zorn und Wut,
Und setze so ein Zeichen!" -

Noch in fernster Himmelsferne
Zittern schauervoll die Sterne
Von des Aufschreis Echohall.
Und die Erde stürzt ins All. -
Blau, mit einem sanften Stöhnen,
Fern so ruhig und in schönen
Abgemessnen Himmelskreisen,
Leichtbedeckt mit silberweißen
Wolken der Vergänglichkeit,
Stürzt sie taumelnd aus der Zeit.

Ach, in diesem sanften Schweben
Nimmt sie mit sich alles Leben,
Tilgt die Zukunft aller Taten,
Reißt vom Himmel die Plejaden. -
Atlas schaudert weltversunken,
Will den schrecklichschönen Funken
halten, dass er neu erscheint.
Atlas senkt das Haupt - und weint.

Ralf Thomas