Alevitischer Abend



Der folgende Beitrag des Poesievereins „Dichterpflänzchen e.V“ wurde von Gabriele Liebig (Sprecherin und Rezitatorin der deutschen Gedichte) und Herrn Pekdemir (Rezitator der türkischen Beiträge) gemeinsam im Weiterbildungs-zentrum (WBZ) Ingelheim am Samstag, den 12.03.2011 präsentiert.

Sprecher:
Wenn man nach einem deutschen Dichter fragt, der sich mit der Poesie des Orients auseinandergesetzt hat, dann wird häufig zu recht J.W. Goethe erwähnt und natürlich sein Gedichtband der „West-östliche Diwan“.

Schon das Wort Diwan stammt aus einer anderen Kultur – Goethe könnte ja auch Gedichtsammlung sagen. Die Aufnahme des orientalischen Begriffes in den Titel seines Werkes ist bereits ein Kennzeichen für den Dialog, den kulturellen Dialog, den Goethe mit Dichtern des Orients führte.
Einige heute immer noch aktuelle Aussagen aus Goethes „West-östlichem Diwan“ wollen wir den Kostproben alevitischer Dichtung voranstellen.


Rezitator (dt):

Herrlich ist der Orient
Übers Mittelmeer gedrungen;
Nur wer Hafis liebt und kennt,
Weiß, was Calderon gesungen.


Bekannt ist auch Goethes Nachdichtung einer Koransure:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Er, der einzige Gerechte,
Will für jedermann das Rechte.
Sei, von seinen hundert Namen,
Dieser hochgelobet! Amen.


Und natürlich darf in dieser Auswahl dieses Gedicht nicht fehlen:

Wer sich selbst und andre kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen – das mag gelten
Also zwischen Ost- und Westen
Sich bewegen: Sei’s zum Besten!

Rezitator (tr):
Kendini ve başkasını bilen
Bilecektir şunu da:
Ayrılmaz birbirinden
Doğu ve Batı asla
Doğu ve Batı arasında Gider gelirim
manalar peşinde;
Kısacası iki dünya ikliminde Dolaşmak
yaraşır en iyi bize.


Sprecher:
Zwischen beiden Welten wollen auch wir uns bewegen und haben dazu einige alevitische Gedichte ausgewählt.

550 Jahre vor Goethe, zu Beginn des 13. Jh., lebte der Philosoph, dessen Lehre eine Grundlage der alevitischen Weltanschauung wurde.
Sein Name ist Haci Bektas Veli.
Einige Sinnsprüche aus seinem Werk „Maqālāt“, in der Türkei bekannter als „Küçük Vilayetnâme“, werden uns heute begleiten.

So sagt Haci Bektas Veli (HBV) zum Beispiel:
(Regie: während der Zitate im Hintergrund leise Saz-Musik)

HBV (dt):

„Respektiere alle Kulturen, Religionen und Völker!“

HBV (tr):

„Hiçbir milleti ve insanı ayıplamayınız“

HBV (dt):

„Das Gewand des Anstands leg dein Leben lang nicht ab!

HBV (tr):

„Edeb elbisesini, sırtınızdan ölünceye kadar çıkartmayınız“


Sprecher:
Etwa zur gleichen Zeit wie Haci Bektas Veli wirkte auch der große Dichterphilosoph Mevlana Dschelaleddin Rumi, dessen „Philosophie der Liebe“ ebenfalls in die alevitische Weltanschauung einfloss.

Von Mevlana Dschelaleddin Rumi haben wir ein ganz kurzes Gedicht mitgebracht, das Friedrich Rückert ins Deutsche übertragen hat.

Steh auf! Nur heut gehört uns diese Welt.
Seele des Alls ist unser Schenk heut nacht.
Seele der Welt ist heute unser Gast,
Die Harfe schlagen Mond und Morgenstern –
Hörst du? Die trunkne Nachtigall erwacht.


(Nach "Hörst du?" erklingt die Saz in eine kurze Pause hinein…)

Sprecher:
Einer der ersten Dichter, die im Sinne dieser Vordenker Gedichte schrieben ist der wandernde Derwisch Yunus Emre. Er lebte in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. und sang von seiner Sehnsucht in einfachen, klangvollen Versen. Hören Sie die erste Strophe auf Türkisch:





Rezitator (tk):

NİÇİN AĞLARSIN BÜLBÜL HEY

Sen burda garip mi geldin
Niçin ağlarsın bülbül hey
Yorulup iz mi yanıldın
Niçin ağlarsın bülbül hey


Rezitator (dt):

Bist du denn fremd hierhergezogen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Und hast ermattet dich verflogen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Hast hohe Berge überschritten?
Bist über Flüsse tief geglitten?
Hast Trennung du vom Freund erlitten?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Ach, wie so bitter klingt dein Flehen!
Neu läßt du meinen Schmerz erstehen!
Du möchtest deinen Freund wohl sehen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Du kannst doch deine Flügel breiten
Und kannst sie ja zum Fluge weiten
Und alle Schleier überschreiten!
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Liegt deine Stadt in Feindes Banden?
Ward denn dein guter Ruf zuschanden?
Ist denn dein Freund in fremden Landen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Du wohnst im Lenz im Rosenhage,
Dir duften Blüten alle Tage,
Doch immer neu klingt deine Klage.
Ach, warum weinst du, Nachtigall?

Ihr Augen, die im Schlafe ruhten:
Erwachend hebt ihr an zu bluten,
Mein Herz verbrennt in hellen Gluten!
Ach, warum weinst du, Nachtigall?


Rezitator (tr):

Karlı dağlardan mı aştın
Derin ırmaklar mı geçtin
Yârinden ayrı mı düştün
Niçin ağlarsın bülbül hey


Sprecher:
Bevor wir den nächsten alevitischen Dichter vorstellen, geben wir Ihnen noch zwei von Haci Bektas Velis Weisheiten mit auf den Weg:

(Regie: während der Zitate im Hintergrund leise Saz-Musik)
HBV (dt):

„Vergesst niemals, dass sogar eure Feinde Menschen sind.“

HBV (tr):

„Düsmaninizin dahi insan oldugunu unutmayin.“

HBV (dt):

„Die Schönheit des Menschen ist die seines Innern.“

HBV (tr):

„Insanin gercek güzelligi, sözünün güzelligidir.“



Sprecher:
Die Reihe der Dichter setzt Kaygusuz Abdal fort, er hieß eigentlich Alaeddin Gaybi, und war ein berühmter Mystiker des 15. Jhs.

Seine Sprache ist würzig und seine Gedichte oft herzhaft und ironisch – sogar wenn er mit Gott spricht.



Rezitator (dt):

Kaygusuz Abdal

Gott

Ich sah Dich über alles hoch -
Du bist der Rechte, großer Gott:
Mit schönen Worten spricht die Welt -
Du sprichst mit starken Silben, Gott!

Schufst ungebärdige Knechte erst
Und dachtest: Gut, so soll es sein -
Die hast Du hier nun hergesetzt,
Und Du zogst Dich zurück, Herr Gott!

Schufst eine Brücke wie ein Haar,
Dass Deine Knechte drübergehn -
Wie wärs: Wir ständen, schauten zu -
Zeig Deinen Mut, geh drüber, Gott…


Sprecher:
Der wohl bekannteste Dichter in dieser Reihe ist Pir Sultan Abdal. Er lebte zu Beginn des 16. Jhs. und gilt heute noch als das Freiheitsvorbild vieler Aleviten.
Pir Sultan Abdal drückte in seinen Gedichten die sozialen, kulturellen und religiösen Empfindungen seiner Mitmenschen kritisch aus und wurde letztendlich als Rebell vom osmanischen Establishment zum Tode verurteilt.


Zunächst aber noch einmal einige Gedanken von Haci Bektas Veli:

(Regie: während der Zitate im Hintergrund leise Saz-Musik)
HBV (dt):

„Der Verstand sitzt im Kopf, nicht in der Krone.“

HBV (tr):

„Keramet baştadır, taçta değil.“

HBV (dt):

„Die Taten zählen, nicht die Worte.“

HBV (tr):

„Yapilanlar sayilir, sözler degil.“

HBV (dt):

„Betet nicht mit den Knien, sondern mit dem Herzen.“

HBV (tr):

„Dinine dizlerinle değil, kalbinle bağlan.“



Sprecher: Das folgende Gedicht von Pir Sultan Abdal haben Sie heute schon einmal gehört. Es war das Eröffnungslied des Chors, und zum Schluss wollen wir es gemeinsam singen. Hören Sie also den Text von Pir Sultan Abdal:

Rezitator (dt):


(Pir Sultan Abdal)
Schweig Nachtigall, schweig…

Schweig Nachtigall, im Garten herrscht Trauer
Da du, mein Freund, dort bist und ich fern von dir
Mein Docht ist verbrannt, mein Wachs ist zerschmolzen
Freund, dein Leid entflammt in mir.

Rezitator (tr):

Ötme Bülbül Ötme, Şen Değil Bağım
Dost Senin Derdinden Ben Yana Yana
Tükendi Fitilim Eridi Yağım
Dost Senin Derdinden Ben Yana Yana

Rezitator (dt):

Ich bin der Fluss, der sich ins Meer ergießt.
Ich bin die Rose, die vorzeitig erblühte und verwelkte.
Ich bin die kalte Asche, das Feuer ist lang erloschen.
Freund, dein Leid entflammt in mir.

Rezitator (tr):

Deryadan Bölünmüş Sellere Döndüm
Vakitsiz Açılan Güllere Döndüm
Ateşi Kararmış Küllere Döndüm
Dost Senin Derdinden Ben Yana Yana

Rezitator (dt):

Was sie mir angetan haben, du wirst es erfahren,
Mit Märtyrern sollen sie meine Wunden schließen
Leidvolle vierzig Jahre der Einsamkeit
Bei Hirschen in der Einöde der Berge
Freund, dein Leid entflammt in mir.

Rezitator (tr):

Haberin Duyarsın Peyikler İle
Yaramı Sarsınlar Şehitler İle
Kırk Yıl Dağda Gezdim Geyikler İle
Dost Senin Derdinden Ben Yana Yana

Rezitator (dt):

Einmal bin ich ganz Pir Sultan Abdal,
Ein andermal nur noch ein Schatten,
Abgeschnitten vom Wasser, ohne zu trinken und zu essen.
Erhängt wurde ich, da ich mein Volk sehr liebte -
Freund, dein Leid entflammt in mir.

Rezitator (tr):

Abdal Pir Sultan'ım, Doldum Eksildim
Yemeden İçmeden Sudan Kesildim
Halkımı Sevdiğim Için Asıldım
Dost Senin Derdinden Ben Yana Yana

Sprecher:
Sehr bekannt und typisch für Pir Sultan Abdals Denken und Schicksal ist auch dieses Gedicht:

Rezitator (dt):

Am Galgentag sind Freunde rar geworden,
Zehn Schmerzen sind nun fünfzig gar geworden,
Das Todesurteil ist nun klar geworden -
Erschlagen werd ich und werd aufgebunden.

Nicht steigt die Seele in die Himmelshöh -
Befiehlt Gott nicht, fällt milder Regen je?
Die Steine dieses Lands tun mir nicht weh -
Des Freundes Rose konnte mich verwunden.

Sprecher:
Die Poesie spielt eine sehr wichtige Rolle im Leben der Aleviten und ist schöner Ausdruck dieser eigenständigen, alten Kultur. Annemarie Schimmel hat den Deutschen mit ihren poetischen, verständnisvollen Gedichtübertragungen geholfen, diese Gedankenwelt zu verstehen.

Mit drei Worten von Haci Bektas Veli wollen wir für heute schließen.
(Regie: während der Zitate im Hintergrund leise Saz-Musik)

HBV (dt):

„Gelobt sei der, der auf Unklarheiten Licht hält.“

HBV (tr):

„Düşünce karanlığına ışık tutanlara ne mutlu.“

HBV (dt):

„Ermögliche den Frauen eine gute Bildung.“

HBV (tr):

„Kadınlarinizi okutunuz.“

HBV (dt):

„Die Größe des Menschen ist die Schönheit seiner Worte.“

HBV (tr):

„İnsanın cemali sözünün güzelliğidir.“





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