Wissen die Wiesbadener überhaupt, welch ein wunderschöner Theatersaal ihnen mitten in der Innenstadt offen steht - wie geschaffen für einen lebendigen Dialog der Kulturen? Im Bürgersaal in der Wellritzstraße gab es am 2. Juni 2007 alte türkische Poesie aus dem 13. Jahrhundert in deutscher Sprache, vorgetragen von den "Dichterpflänzchen".



Das ist die Liebe, himmelwärts zu fliegen

Gedichte und Geschichten von Mevlana Dschelaleddin Rumi, Yunus Emre und Nasreddin Hodscha
Man fühlt sich sofort wohl in dem holzgetäfelten Raum mit technisch professionell ausgestatteter Bühne. Warmes Scheinwerferlicht fällt auf eine farbenprächtige, orientalische Decke und einen Rosenstrauß. Die Klänge der traditionellen Flöte, der Ney, stimmen die Zuhörer ein auf den ersten türkischen Dichter: Yunus Emre (1238-1320). Türkische Poesie in deutscher Sprache - ein Projekt, das dem kleinen Ensemble der Dichterpflänzchen sichtlich Freude macht. Den Zuhörer tragen diese innigen Lieder unversehens in die endlosen Weiten Anatoliens, wo der wandernde Derwisch seinen Gott sucht, ihn mit Bergen und mit Steinen, mit allen Tieren, mit Jesus, Moses und Muhammad ruft - "Mit denen, die Gott lieben allen/ Will ich dich rufen, Herr, o Herr!" Von Yunus Emre stammt auch das von Annemarie Schimmel so herrlich übersetzte Gedicht "Ach, warum weinst du, Nachtigall?" und jenes andere Lied vom Paradies, wo sogar die Bäume, Rosen und Nachtigallen nur "Allah, Allah" singen, das kurz darauf in östlicher Vertonung ("Deyu, Deyu") erklingt.
Als nächstes wird der in der Türkei bei Alt und Jung beliebte Nasreddin Hodscha (1208-1284) vorgestellt, eingeleitet von einer musikalischen Überraschung - dem "Türkischen Marsch" von Wolfgang Amadeus Mozart. Nasreddin Hodscha, der oft mit dem europäischen Till Eulenspiegel verglichen wird, rücklings auf seinem Esel daher geritten kommt und sehr vernünftig die Gründe dafür erläutert, war ein großer Gelehrter und Erzieher. Davon zeugen seine Geschichten, in denen er humorvoll allerhand menschliche Torheiten aufs Korn nimmt: törichten Aberglauben ebenso wie pompöse Dünkelhaftigkeit oder die in allen Epochen und Kulturen verbreitete Illusion vom Reichtum, der ohne Arbeit zu erwerben sei. Es gibt kein schriftliches Zeugnis von ihm, die anekdotenhaften Geschichten wurden erst später, in Prosa oder auch gereimt, aufgeschrieben. „Unser Hodscha“, wie ihn die Dichterpflänzchen liebevoll nennen, war der Imam und Landrat seines Dorfes und - ein Zeitgenosse von Yunus Emre und Mevlana Dschelaleddin Rumi.
Letzerer war wie sein Vater Professor der Islamschule in Konya, und der Name Mevlana Dschelaleddin Rumi (1207-1273) bedeutet einfach „Herr Dschelaleddin aus dem Lande der Römer“, wie die Gegend um Konya genannt wurde. Er sprach Arabisch, Persisch, Hebräisch, Griechisch und Türkisch, war in der Mathematik, Chemie, Astronomie und Literatur bewandert. Doch um die Schöpfung zu verstehen, ist seine Liebe zu Gott und den Menschen noch viel wichtiger.
Wie beim Hodscha spielt auch bei Rumi der Esel eine symbolträchtige Rolle. Als weiser Mann sieht er die Situation des Menschen so: "dass die Federn eines Engels gebracht und an einen Eselschwanz gebunden wurden, damit der Esel vielleicht im Glanze dieser Gesellschaft ein Engel werde..." Aber der Mensch ist ausgestattet mit Freiheit, und seine Bestimmung ist, sich von Stufe zu Stufe höher zu entwickeln und dem göttlichen Willen ähnlicher zu machen. Das ist schwer, aber keineswegs unmöglich. Das wahre Wunder sieht der weise Mevlana darin, dass "Gott dich von einem niedrigeren Zustand in einen höheren Zustand bringt, dich von tadelswerten Taten zu guten Werken zieht und dass du von dort hierher reisen kannst, von Unwissenheit zum Verstand, vom Unbelebten zum Leben" - vorausgesetzt, man folgt dem Gesetz der Liebe.
Diese schöne Idee existiert freilich auch in der westlichen Religion und Philosoph, viele haben sie nur vergessen. Mevlana Dschelaleddin Rumi drückt sie u.a. in dem Gedicht aus, dem der Titel der Veranstaltung entnommen ist: "Das ist die Liebe, himmelwärts zu fliegen,/ In jedem Nu die Schleier zu besiegen..." Für diese grenzenlose Liebe gibt es schließlich keine Worte mehr, sie ist nur mehr auszudrücken im Reigen, im meditativen Tanz.. Dies einfühlsam aufzuspüren und mitteilbar zu machen durch die Nachdichtungen Friedrich Rückerts ist ein echtes Verdienst dieser Gruppe der Dichterpflänzchen, die es immer wieder schaffen, sich hineinzudenken und hineinzufühlen in die großen Dichter der eigenen wie anderer Kulturen.
Derzeit versuchen sich bekanntlich viele, leider oft etwas verkrampft, im "Dialog der Kulturen". Gerade die offiziellen Repräsentanten tun sich offenbar schwer damit, vor allem, wenn sie meinen, dabei das eigene Profil schärfen zu müssen. Die Dichterpflänzchen hingegen haben ganz bewusst eine Art des Dialogs gewählt, die das Politisch-Konfessionelle hinter sich lässt und auch darauf verzichtet, dem Dialogpartner erst einmal die Vorzüge der eigenen Kultur aufzudrängen. Sie setzen vielmehr auf Rückerts Motto "Weltpoesie allein ist Weltversöhnung" und gehen nach dem Vorbild des Orientalisten Hammer-Purgstall, und der Dichter-Philologen Friedrich Rückert und Annemarie Schimmel mit Wissbegier und poetischem Herzen daran, sich in die Ideenwelt und poetischen Schönheiten der fremden Dichtungen zu vertiefen, die man in der Sprache der deutschen Dichter so wunderbar ausdrücken kann.
Lutz Schauerhammer hat dazu sogar Türkisch gelernt. Das Wiesbadener Emre-Hodscha-Rumi-Programm entstand in der Diskussion und mit dem kenntnisreichen Rat türkischer Freunde hier in Deutschland und in Istanbul. Für Oktober 2007 ist ein Mevlana-Festival in Mainz geplant, auf das man gespannt sein darf.

Gabriele Liebig